Ich knüpfe an unsere Tour 1 an und fahre ab Bern die Aare Route alias Nationale Schweizer Veloroute Nr. 8 umgekehrt der offiziellen Richtung weiter. Ausführliche Infos zur Strecke incl. Karten und Höhenprofilen wieder auf veloland.ch.
Zelt und Schlafsack bleiben bei unserem ersten Solo/Duo-Trip daheim, wir wollen es langsam angehen.
28.5.2014: Bern - Thun - Spiez (62 km)
Meine größte logistische Sorge gilt zunächst der Anfahrt im Zug nach Bern. In Wettingen steht der Regionalzug schon da, daher kein Problem, Fahrrad und abgekoppelten Anhänger nacheinander hineinzuhieven. Am Bahnhof Olten habe ich fünf Minuten zum Umsteigen. Gerade noch schaffe ich es, mit Baby im Tragegurt auf den Bauch geschnallt, Fahrrad, Anhänger und Gepäck nacheinander aus dem ersten Zug auszuladen, den Anhänger anzukoppeln (ziemliche Pfriemelei), das ganze Gespann die Treppen hinunter und wieder hinaufzuziehen - in die Aufzüge passen wir ja nicht annhähernd - dann wieder abzukoppeln (kurze Pfriemelei) und Fahrrad, Anhänger und Gepäck wieder einzuladen. Hilfsbereite Passagiere oder Zugbegleiter helfen mir immer ungefragt.
Nach einem nutzlosen Besuch-Versuch auf dem russischen Konsulat in Bern wegen Visum für Tour 3 verlasse ich um 15:15 h leicht genervt die Hauptstadt und biege auf die ab Bahnhof gut beschilderte Aare-Route. Das erzwungene Durchatmen auf den ersten Höhenmetern nach der Flußüberquerung bringt mein Nervenkostüm wieder in Ordnung.
In Thun findet auf dem Hauptplatz gerade eine militärische Kundgebung statt:
29.5.2014: Interlaken - Meiringen - Handeck (71 km)
Beim Frühstück erfahre ich, in dem Ausbildungszentrum findet ab heute über das lange Wochenende das "Auffahrts-Gipfeljassen" statt. Was heißt, dass Leute mit Bussen anreisen, mit der Seilbahn auf einen Berg fahren und oben kartenspielen. Aber schon frühmorgens sitzen verstreute Vierergrüppchen beim Zocken. Ein älterer Herr, der im letzten Jahr den Hauptpreis gewonnen hat, setzt sich zu mir und erzählt mir kurz seine bewegte Lebensgeschichte. Wie er vor etwa 70 Jahren in den Kriegswirren bei drei verschiedenen Familien aufwuchs und dann über Berlin und Graz schließlich in Basel gelandet ist, wo er seit 50 Jahren eine Schumacherei betreibt. Wir stellen fest, wir drei am Frühstückstisch sind genau 0, 40 und 80 Jahre alt. Was Karina wohl in 80 Jahren erzählen kann, sofern es da noch eine Karina gibt?
Die Strecke nach Interlaken läuft zunächst bei Sonnenschein und traumhafter Kulisse direkt am Thuner See entlang:
Es geht weiter am Südufer des Brienzer Sees, besser gesagt am Hochufer desselben. Im Internet hatte ich ein Höhenprofil gefunden, die Südroute hat nur zwei Anstiege (100 und 150 hm), die Route übers Nordufer hätte drei gehabt. Direkt am nördlichen Seeufer darf offenbar nur die Eisenbahn fahren (für Insider: wie an der russischen Schwarzmeerküste Richtung Sotschi). Wirklich schöne Ausblicke auf den See tun sich immer wieder auf, bis kurz nach den schönen Giessbachfällen die finale Abfahrt nach Brienz kommt.
Anschließend düse ich die brettebenen Kilometer mit Rückenwind nach Meiringen. Unterwegs fängt es genau zu regnen an, als Karina Hunger bekommt. Notdürftig kann ich sie unter den kleinen Dachvorsprung einer Holzhütte halten und stillen, nicht ganz ideal. In der Pizzeria am Bahnhof Meiringen bekomme ich zum Glück mitten am Nachmittag Spaghetti - traumhaft! I-Tüpfelchen ist, dass Karina zum erstenmal in ihrem Leben allein in einem Babystuhl sitzt und ich ganz ungestört mit beiden Händen essen darf.
So, wie geht es weiter? Laut offizieller Aare-Route käme jetzt der Grimselpass ... Wir befinden uns auf 599 m, die Passhöhe wäre 2164 m. Ahnung, wieviel das mit etwa 20 Extra-Kilo im Anhänger ist, habe ich nicht. Auch bin ich noch nie einen Westalpenpass gefahren. "Nur" Kaukasuspässe, aber die waren im Sommer und mit sehr wenig Gepäck. Im Intenet lese ich, es gäbe noch drei Unterkünfte an der Passstraße, die letzte etwa auf halber Passhöhe. Also kaufe ich noch ein paar Tafeln Schoki am Bahnhof und los geht es! Es ist kurz vor 17 h. Ich will einfach sehen, wie weit wir kommen würden. Umkehren können wir immer und dann entweder in Meiringen übernachten oder mit der Bahn heimfahren.
Ein Schild sagt "steigt 1650 m auf 30 km". Und mit den ersten Höhenmetern schießen auch schon die ersten Motorradfahrer um die Kurve.
Endlich erreichen wir gegen 20:30 h Handeck auf 1378 m, die weit und breit einzige Übernachtungsmöglichkeit. Ein wunderbarer Ort mit herzlichem Empfang. Ich hatte wieder erst kurz vorher angerufen und ein Zimmer zum Sondertarif bekommen. Überglücklich und erschöpft fallen wir ins Bett. Ich bin zu müde zum Abendessen. Morgen sehen wir, ob wir weiterfahren oder umkehren.
30.5.2014: Handegg - Grimselpass - Oberwald - Brig (70 km)
Ein morgendlicher Blick aus dem Fenster macht die Entscheidung vermeintlich leicht: es regnet, d.h. oben am Pass wird es schneien. Dafür sind wir weder kleidungsmäßig noch mental gerüstet, also umkehren.
Nach dem Frühstück ist allerdings von irgendwo die Sonne herausgekommen, so will ich doch versuchen, noch ein bisschen weiterzufahren. Als wir gegen Mittag endlich aufbruchbereit sind und ich gerade das Baby dick eingepackt in den Anhänger setze (folgendes Foto), fängt es urplötzlich wieder an zu regnen und Karina an zu schreien. Wir hüpfen schnell unter einen Dachvorsprung. Also Kommando zurück, wir setzen uns nochmal in den Aufenthaltsraum und warten einfach. Ein Rennradfahrer sagt, oben sei es furchtbar kalt mit Graupelschauern und null Sicht - nicht schön.
Gegen 13 h wäre Karina abfahrbereit, sie wurde frisch gestillt und gewickelt. Gleichzeitig hat es direkt über uns wieder aufgeklart, vor und hinter uns ist alles vernebelt - wenn das kein Omen ist! Also versuchen wir es.
Ich brauche die erste Pause nach 30 Minuten, 180 hm, 2,7 km. Stehe eine Weile keuchend am Straßenrand. Ob wir bei der Kriecherei jemals oben ankommen? Nach 400 hm ab Hotel erreichen wir den Räterichsbodensee mit der schon lange sichtbaren Staumauer:
Auf dem kurzen ebenen Stück am Stausee haben wir Rückenwind, können ein paar Minuten 25 km/h fahren, ich bin im Geschwindigkeitsrausch! Ab jetzt sieht man auch den Straßenverlauf bis fast ganz nach oben. Vorbei geht es am Grimselsee. Wirklich eine wuchtige, urgewaltige Landschaft mit all den Felswänden, Seen und Staumauern.
Und um 15:20 sind wir auf der Passhöhe - völliges Glück! Wir haben sogar kurz ein bisschen Aussicht. Es waren letztlich optimale Bedingungen: fast kein Regen, leichter Rückenwind, erträgliche Temperaturen. Direkt über uns war offenbar ein kleines "Schönwetterfenster". Und das Baby hat die ganze Zeit geschlafen und zum Glück keinen Hunger bekommen. Die Anzahl der Motorradfahrer hielt sich wegen des nicht optimalen Wetters in Grenzen, der Pass war ja vor wenigen Tagen noch geschlossen.
Nach der Pause im Gipfelrestaurant Grimselblick sind wir ganz dicht eingenebelt, es ist sehr ungemütlich geworden. Nun kommt der "Kilometerfress-Teil" des Tages. Bei der Abfahrt nach Gletsch hört es jeweils zur Hälfte einer Serpentine auf zu regnen, die Straße wird trocken, man hat eine gute Aussicht auf Furkapass und das, was vom Rhonegletscher noch übrig ist (im übernächsten Foto links neben mir). Am gegenüberliegenden Ende der Serpentine regnet es wieder, und man ist komplett eingenebelt. Das geht etwa dreimal hin und her. Witzige Erfahrung.
40 Minuten dauert die rasante Abfahrt ins 800 m tiefer gelegene Oberwald, wo man über den Furka-Basistunnel per Bahn Richtung Andermatt fahren könnte. Aber ich rolle bei mittlerweile abendlichem Sonnenschein, warmen Temperaturen und Rückenwind noch weitere 42 km durchs Wallis ins nochmal etwa 700 m tiefer gelegene Brig. Das nenne ich Wellness-Radfahren. Es ist Freitag Abend, nur ganz vereinzelt kommt ein Auto, so fahre ich einfach auf der Hauptstraße, nicht auf dem Rhone-Radweg.
Bei einem kurzen Blick zurück sieht man nochmal dunkle Wolken aus dem Grimselpass herausrauchen: In Brig steigen wir in den Zug und fahren mit einmal Umsteigen zurück nach Hause. Als uns in unglaublichen 30 Minuten der Lötschbergtunnel kurz vor Spiez ausspuckt, kann ich kaum glauben, dass wir erst gestern hier waren.
Insgesamt hat es mega viel Spaß gemacht. Vor allem wollte ich ja testen, was und wieviel für Baby und mich allein möglich ist. Auch wenn beim Ein-, Aus- und Umpacken manchmal eine dritte, vierte Hand gut gewesen wären, war es doch sehr gut machbar. Essenziell vor allem an den Bahnhöfen war der Babytragegurt zum Baby-Verstauen während der Umbauarbeiten am Anhänger. Da wir immer in Unterkünften übernachtet haben, konnten wir uns jede Nacht gut erholen und das Reisegepäck hielt sich in Grenzen.