Introtext

Hier berichte ich über meine Erfahrungen mit Baby auf Radtouren, das heißt im ersten Lebensjahr, genauer zwischen drittem und achtem Lebensmonat, also etwa bis zum Krabbelalter. Die Anregung zur Webseite kam übrigens von Chris on the bike persönlich, siehe Prolog Tour. Allgemeine Infos auf der Startseite ganz unten.

Karinafoto

Karinafoto
Karina (3 Monate) bei ihrem allerersten Ausflug im "Singletrailer", März 2014

Tour 2: Bern - Grimselpass - Brig (28.-30.5.2014, 203 km)

Zum erstenmal gehe ich allein mit dem mittlerweile gut viereinhalb Monate alten Baby im Anhänger auf Tour. Grund: Johann hat sich in der Zwischenzeit so sehr mit seinem Vatersein identifiziert, dass er nach Deutschland zum Vatertags-Ausflug, dem "Flèche Allemagne", gefahren ist.

Ich knüpfe an unsere Tour 1 an und fahre ab Bern die Aare Route alias Nationale Schweizer Veloroute Nr. 8 umgekehrt der offiziellen Richtung weiter. Ausführliche Infos zur Strecke incl. Karten und Höhenprofilen wieder auf veloland.ch.

Zelt und Schlafsack bleiben bei unserem ersten Solo/Duo-Trip daheim, wir wollen es langsam angehen.


28.5.2014: Bern - Thun - Spiez (62 km)

Meine größte logistische Sorge gilt zunächst der Anfahrt im Zug nach Bern. In Wettingen steht der Regionalzug schon da, daher kein Problem, Fahrrad und abgekoppelten Anhänger nacheinander hineinzuhieven. Am Bahnhof Olten habe ich fünf Minuten zum Umsteigen. Gerade noch schaffe ich es, mit Baby im Tragegurt auf den Bauch geschnallt, Fahrrad, Anhänger und Gepäck nacheinander aus dem ersten Zug auszuladen, den Anhänger anzukoppeln (ziemliche Pfriemelei), das ganze Gespann die Treppen hinunter und wieder hinaufzuziehen - in die Aufzüge passen wir ja nicht annhähernd - dann wieder abzukoppeln (kurze Pfriemelei) und Fahrrad, Anhänger und Gepäck wieder einzuladen. Hilfsbereite Passagiere oder Zugbegleiter helfen mir immer ungefragt.

Nach einem nutzlosen Besuch-Versuch auf dem russischen Konsulat in Bern wegen Visum für Tour 3 verlasse ich um 15:15 h leicht genervt die Hauptstadt und biege auf die ab Bahnhof gut beschilderte Aare-Route. Das erzwungene Durchatmen auf den ersten Höhenmetern nach der Flußüberquerung bringt mein Nervenkostüm wieder in Ordnung.

Da ich gar keine Karte dabei habe, sondern nur den "Aare Route" Schildern folge, schaffe ich es, mich auf dem Weg nach Thun bei Kehrsatz zu verfahren und anschließend 150 unnötige Höhenmeter wieder abfahren zu dürfen.

In Thun findet auf dem Hauptplatz gerade eine militärische Kundgebung statt:

Weiter geht es zum "Kraftort" Spiez, nicht am Thuner See, sondern etwas daneben, meist durch Wald. Zwischendurch Nervenkitzel auf der Hängebrücken-Überquerung der Simme:
Meine erst abends über Internet gesuchte Unterkunft in Spiez erweist sich als "Ausbildungszentrum für die Schweizer Fleischwirtschaft", hat einen traumhaften Seeblick und war für Spiezer Verhältnisse fast ein Schnäppchen. Problem ist ja, dass ich mit meinem noch beschränkten Babytouren-Erfahrungsschatz erst recht spät einschätzen kann, wo wir übernachten wollen. Kurz nach halb 9 h abends rollen wir ein, als gerade ein sehr heftiger Regen einsetzt. Zufrieden verfolgen wir vom Zimmer aus ein beeindruckenes Abendrot über der Spiezer Bucht, der schönsten Bucht Europas, wie ich auf einem herumliegenden Prospekt lese.

29.5.2014: Interlaken - Meiringen - Handeck (71 km)

Beim Frühstück erfahre ich, in dem Ausbildungszentrum findet ab heute über das lange Wochenende das "Auffahrts-Gipfeljassen" statt. Was heißt, dass Leute mit Bussen anreisen, mit der Seilbahn auf einen Berg fahren und oben kartenspielen. Aber schon frühmorgens sitzen verstreute Vierergrüppchen beim Zocken. Ein älterer Herr, der im letzten Jahr den Hauptpreis gewonnen hat, setzt sich zu mir und erzählt mir kurz seine bewegte Lebensgeschichte. Wie er vor etwa 70 Jahren in den Kriegswirren bei drei verschiedenen Familien aufwuchs und dann über Berlin und Graz schließlich in Basel gelandet ist, wo er seit 50 Jahren eine Schumacherei betreibt. Wir stellen fest, wir drei am Frühstückstisch sind genau 0, 40 und 80 Jahre alt. Was Karina wohl in 80 Jahren erzählen kann, sofern es da noch eine Karina gibt?

Die Strecke nach Interlaken läuft zunächst bei Sonnenschein und traumhafter Kulisse direkt am Thuner See entlang:

Anschließend geht es ab Leissigen auf die Hauptstraße, was aber nicht schlimm ist, man hat immer einen abgetrennten Fahrradstreifen. In Interlaken kann man viele Japaner besichtigen. Wirklich umwerfend ist das berühmte sich kurz öffnende Fenster hinein ins Berner Oberland, wo sich die Eisriesen wie eine Wand vor einem auftun:
Es geht weiter am Südufer des Brienzer Sees, besser gesagt am Hochufer desselben. Im Internet hatte ich ein Höhenprofil gefunden, die Südroute hat nur zwei Anstiege (100 und 150 hm), die Route übers Nordufer hätte drei gehabt. Direkt am nördlichen Seeufer darf offenbar nur die Eisenbahn fahren (für Insider: wie an der russischen Schwarzmeerküste Richtung Sotschi). Wirklich schöne Ausblicke auf den See tun sich immer wieder auf, bis kurz nach den schönen Giessbachfällen die finale Abfahrt nach Brienz kommt.
Anschließend düse ich die brettebenen Kilometer mit Rückenwind nach Meiringen. Unterwegs fängt es genau zu regnen an, als Karina Hunger bekommt. Notdürftig kann ich sie unter den kleinen Dachvorsprung einer Holzhütte halten und stillen, nicht ganz ideal. In der Pizzeria am Bahnhof Meiringen bekomme ich zum Glück mitten am Nachmittag Spaghetti - traumhaft! I-Tüpfelchen ist, dass Karina zum erstenmal in ihrem Leben allein in einem Babystuhl sitzt und ich ganz ungestört mit beiden Händen essen darf.
So, wie geht es weiter? Laut offizieller Aare-Route käme jetzt der Grimselpass ... Wir befinden uns auf 599 m, die Passhöhe wäre 2164 m. Ahnung, wieviel das mit etwa 20 Extra-Kilo im Anhänger ist, habe ich nicht. Auch bin ich noch nie einen Westalpenpass gefahren. "Nur" Kaukasuspässe, aber die waren im Sommer und mit sehr wenig Gepäck. Im Intenet lese ich, es gäbe noch drei Unterkünfte an der Passstraße, die letzte etwa auf halber Passhöhe. Also kaufe ich noch ein paar Tafeln Schoki am Bahnhof und los geht es! Es ist kurz vor 17 h. Ich will einfach sehen, wie weit wir kommen würden. Umkehren können wir immer und dann entweder in Meiringen übernachten oder mit der Bahn heimfahren.

Ein Schild sagt "steigt 1650 m auf 30 km". Und mit den ersten Höhenmetern schießen auch schon die ersten Motorradfahrer um die Kurve.

Erstmal geht es 110 hm steil bergauf, davon leider 90 gleich wieder hinunter. Ab Innertkirchen geht es aber richtig los. Nun sind es laut Schild "1480 m auf 24 km". Gegen 18 h erreiche ich den Ort Boden auf 871 m. Es fängt wieder an zu regnen, das Baby muss dringend versorgt werden. Zum Riesenglück gibt es eine Bushaltestelle mit einem kleinen Unterstand, wo ich wickeln und stillen kann. Der Aufstieg scheint sich noch ewig hinzuziehen, ich weiß nicht, ob/wie das mit dem Regen klappen soll. Eine gute Stunde später erreiche ich im Schneckentempo Guttannen auf 1057 m. Nun fängt Karina an zu schreien und will getragen werden. Als nichts anderes hilft, fahre ich vorsichtig mit ihr im Tragegurt weiter, nun lacht sie wieder. Als aber nach wenigen Minuten wieder ein ordentlicher Regenschauer losbricht, muss sie wohl oder übel zurück in den Anhänger, um nicht nass zu werden. Sie schreit wie am Spieß. Zum Glück kommt bald ein Tunnel, wo ich sie wieder herausnehmen kann. Jedoch ist der nicht schallgedämpft, jedesmal, wenn ein Auto, oder noch schlimmer: Motorrad kommt, meint man, es wäre ein Düsenjet oder so etwas. Etwas ratlos stehe ich herum, die Zeit verrinnt. Wahrscheinlich wegen der Reizüberflutung beruhigt sie sich irgendwann, wir können weiterfahren. Der Regen hat wieder aufgehört, es sind jetzt nur noch 200 hm, ich trete, was ich kann.
Endlich erreichen wir gegen 20:30 h Handeck auf 1378 m, die weit und breit einzige Übernachtungsmöglichkeit. Ein wunderbarer Ort mit herzlichem Empfang. Ich hatte wieder erst kurz vorher angerufen und ein Zimmer zum Sondertarif bekommen. Überglücklich und erschöpft fallen wir ins Bett. Ich bin zu müde zum Abendessen. Morgen sehen wir, ob wir weiterfahren oder umkehren.

30.5.2014: Handegg - Grimselpass - Oberwald - Brig (70 km)

Ein morgendlicher Blick aus dem Fenster macht die Entscheidung vermeintlich leicht: es regnet, d.h. oben am Pass wird es schneien. Dafür sind wir weder kleidungsmäßig noch mental gerüstet, also umkehren.

Nach dem Frühstück ist allerdings von irgendwo die Sonne herausgekommen, so will ich doch versuchen, noch ein bisschen weiterzufahren. Als wir gegen Mittag endlich aufbruchbereit sind und ich gerade das Baby dick eingepackt in den Anhänger setze (folgendes Foto), fängt es urplötzlich wieder an zu regnen und Karina an zu schreien. Wir hüpfen schnell unter einen Dachvorsprung. Also Kommando zurück, wir setzen uns nochmal in den Aufenthaltsraum und warten einfach. Ein Rennradfahrer sagt, oben sei es furchtbar kalt mit Graupelschauern und null Sicht - nicht schön. Gegen 13 h wäre Karina abfahrbereit, sie wurde frisch gestillt und gewickelt. Gleichzeitig hat es direkt über uns wieder aufgeklart, vor und hinter uns ist alles vernebelt - wenn das kein Omen ist! Also versuchen wir es.

Nach der ersten Kurve kommt gleich ein "gefühlt" elend langer Tunnel mit 11 % Steigung, hier geht es an meine Grenzen, ich bräuchte entweder weniger Gewicht oder eine kleinere Übersetzung (oder beides).
Ich brauche die erste Pause nach 30 Minuten, 180 hm, 2,7 km. Stehe eine Weile keuchend am Straßenrand. Ob wir bei der Kriecherei jemals oben ankommen? Nach 400 hm ab Hotel erreichen wir den Räterichsbodensee mit der schon lange sichtbaren Staumauer:
Auf dem kurzen ebenen Stück am Stausee haben wir Rückenwind, können ein paar Minuten 25 km/h fahren, ich bin im Geschwindigkeitsrausch! Ab jetzt sieht man auch den Straßenverlauf bis fast ganz nach oben. Vorbei geht es am Grimselsee. Wirklich eine wuchtige, urgewaltige Landschaft mit all den Felswänden, Seen und Staumauern.
Und um 15:20 sind wir auf der Passhöhe - völliges Glück! Wir haben sogar kurz ein bisschen Aussicht. Es waren letztlich optimale Bedingungen: fast kein Regen, leichter Rückenwind, erträgliche Temperaturen. Direkt über uns war offenbar ein kleines "Schönwetterfenster". Und das Baby hat die ganze Zeit geschlafen und zum Glück keinen Hunger bekommen. Die Anzahl der Motorradfahrer hielt sich wegen des nicht optimalen Wetters in Grenzen, der Pass war ja vor wenigen Tagen noch geschlossen.
Nach der Pause im Gipfelrestaurant Grimselblick sind wir ganz dicht eingenebelt, es ist sehr ungemütlich geworden. Nun kommt der "Kilometerfress-Teil" des Tages. Bei der Abfahrt nach Gletsch hört es jeweils zur Hälfte einer Serpentine auf zu regnen, die Straße wird trocken, man hat eine gute Aussicht auf Furkapass und das, was vom Rhonegletscher noch übrig ist (im übernächsten Foto links neben mir). Am gegenüberliegenden Ende der Serpentine regnet es wieder, und man ist komplett eingenebelt. Das geht etwa dreimal hin und her. Witzige Erfahrung.

40 Minuten dauert die rasante Abfahrt ins 800 m tiefer gelegene Oberwald, wo man über den Furka-Basistunnel per Bahn Richtung Andermatt fahren könnte. Aber ich rolle bei mittlerweile abendlichem Sonnenschein, warmen Temperaturen und Rückenwind noch weitere 42 km durchs Wallis ins nochmal etwa 700 m tiefer gelegene Brig. Das nenne ich Wellness-Radfahren. Es ist Freitag Abend, nur ganz vereinzelt kommt ein Auto, so fahre ich einfach auf der Hauptstraße, nicht auf dem Rhone-Radweg.
Bei einem kurzen Blick zurück sieht man nochmal dunkle Wolken aus dem Grimselpass herausrauchen:
In Brig steigen wir in den Zug und fahren mit einmal Umsteigen zurück nach Hause.
Als uns in unglaublichen 30 Minuten der Lötschbergtunnel kurz vor Spiez ausspuckt, kann ich kaum glauben, dass wir erst gestern hier waren.


Insgesamt hat es mega viel Spaß gemacht. Vor allem wollte ich ja testen, was und wieviel für Baby und mich allein möglich ist. Auch wenn beim Ein-, Aus- und Umpacken manchmal eine dritte, vierte Hand gut gewesen wären, war es doch sehr gut machbar. Essenziell vor allem an den Bahnhöfen war der Babytragegurt zum Baby-Verstauen während der Umbauarbeiten am Anhänger. Da wir immer in Unterkünften übernachtet haben, konnten wir uns jede Nacht gut erholen und das Reisegepäck hielt sich in Grenzen.